Bundesgerichtshof

Mitteilung der Pressestelle


Nr. 38/2010

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung dient nicht der Korrektur früherer, fehlerhafter Entscheidungen

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat eine vom Landgericht Hannover angeordnete nachträgliche Sicherungsverwahrung (§ 66 b StGB) aufgehoben. Der jetzt 49 Jahre alte Verurteilte hatte im Jahr 1984 seine erste Ehefrau getötet und war deswegen vom Landgericht Hildesheim zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Nachdem er diese Strafe teilweise verbüßt hatte und im Jahr 1989 auf Bewährung aus der Haft entlassen worden war, heiratete er erneut. Im Mai 1993 tötete er auch seine zweite Ehefrau sowie seinen Stiefsohn. Deswegen verurteilte ihn das Landgericht Hannover im Jahr 1994 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren, die es aus zwei Einzelstrafen von elf und zwölf Jahren bildete. Hintergrund der Taten war jeweils die Persönlichkeitsstruktur des Verurteilten, eines auf die eigene Geltung bedachten Menschen mit einem ausgeprägten Bedarf an Anerkennung und Neigung zu impulsiv unbedachten Verhaltensmustern. Schon im Urteil von 1994 war vom Landgericht Hannover deshalb festgestellt worden, bei ihm bestehe ein hohes Risiko für weitere brutale Gewaltentfaltung gegenüber Menschen, die eine Partnerbeziehung zu ihm eingingen.

Zur Überzeugung des Landgerichts besteht bei dem Verurteilten eine solche Gefährlichkeit auch nach der vollständigen Vollstreckung der 15-jährigen Freiheitsstrafe fort. Es hat daher gegen ihn die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet. Da die Gefährlichkeit des Verurteilten schon bei seiner Verurteilung im Jahr 1994 bekannt war, hat es indes keine erst während des Strafvollzugs neu entstandenen oder erstmals erkennbaren Umstände in der Person des Verurteilten festgestellt, die dessen Beurteilung als gefährlich erst nachträglich rechtfertigen. Derartige neue Tatsachen sind aber für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 StGB erforderlich. Das Landgericht hat seine Entscheidung deshalb auf Grundlage der seit dem Jahr 2007 geltende Ausnahmevorschrift des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB getroffen. Nach dieser Bestimmung kann die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch auf bereits bei der ursprünglichen Verurteilung erkennbare Tatsachen gestützt werden, wenn damals die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB aus Rechtsgründen noch nicht möglich war.

Hiervon ist das Landgericht Hannover im Jahr 1994 und im jetzigen Urteil ausgegangen. Diese Rechtsauffassung ist indes fehlerhaft, da gegen den Verurteilten schon im Jahr 1994 die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB hätte angeordnet werden können.

Daher ist die Ausnahmeregelung des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht anwendbar, so dass die Revision des Verurteilten Erfolg haben musste. Da auszuschließen ist, dass das Landgericht in einer erneuten Verhandlung solche neuen Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 StGB feststellen kann, hat der Bundesgerichtshof von einer Zurückverweisung der Sache abgesehen und selbst entschieden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung entfällt. Der Verurteilte muss deshalb entlassen werden, sobald die Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vollstreckt ist.

Der Bundesgerichtshof hatte bei dieser Konstellation nicht zu entscheiden, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (AZ 19359/04) Anlass gibt, an der Vereinbarkeit der Ausnahmevorschrift des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB mit dem Grundgesetz oder der Europäischen Menschenrechts-konvention zu zweifeln.

Beschluss vom 12. Januar 2010 - 3 StR 439/09

LG Hannover - Urteil vom 15. Juni 2009 - 39 Ks 2/08 - 1352 Js 35701/93

Karlsruhe, den 17. Februar 2010

§ 66 b Abs. 1 und 2 StGB - Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

(1) Werden nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit den §§ 252, 255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, und wenn im Zeitpunkt der Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung die übrigen Voraussetzungen des § 66 erfüllt sind. War die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Zeitpunkt der Verurteilung aus rechtlichen Gründen nicht möglich, so berücksichtigt das Gericht als Tatsachen im Sinne des Satzes 1 auch solche, die im Zeitpunkt der Verurteilung bereits erkennbar waren.

(2) Werden Tatsachen der in Absatz 1 Satz 1 genannten Art nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255, erkennbar, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

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