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Pressemitteilungen » Pressemitteilungen aus dem Jahr 2006 » Pressemitteilung Nr. 50/06 vom 23.3.2006

Siehe auch:  Urteil des 1. Strafsenats vom 23.3.2006 - 1 StR 476/05 -

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Bundesgerichtshof

Mitteilung der Pressestelle


Nr. 50/2006

Bundesgerichtshof hebt Anordnung der nachträglichen

Sicherungsverwahrung auf

Das Landgericht Passau hat mit Urteil vom 10. Juni 2005 gegen den Verurteilten gem. § 66 b Abs. 1 StGB die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet und ihn zugleich in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus überwiesen.

Der 72jährige Verurteilte leidet seit einer Kopfverletzung in seiner Jugend an einer organischen Persönlichkeitsstörung; ein Hirnsubstanzdefekt führt bei ihm zu einem fortschreitenden Persönlichkeitsabbau. Nachdem gegen ihn im Jahr 1994 eine Bewährungsstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verhängt worden war, verurteilte ihn das Landgericht Passau am 16. März 1999 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten (sog. Anlassverurteilung). Nach den Urteilsfeststellungen hatte der Verurteilte mit der 12jährigen Tochter seiner Geliebten gegen deren Widerstand den ungeschützten Geschlechtsverkehr durchgeführt.

Der Verurteilte verbüßte die verhängte Freiheitsstrafe vollständig. Er verblieb auch nach Strafende in der Justizvollzugsanstalt, da das Landgericht Bayreuth mit Beschluss vom 10. April 2002 seine dortige Unterbringung nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter (BayStrUBG) angeordnet hatte. Nachdem der Vollzug der Unterbringung im Dezember 2003 für die Dauer eines Jahres ausgesetzt worden war und der Verurteilte weisungsgemäß Aufenthalt in einem Seniorenheim genommen hatte, kam es dort im Januar und Februar 2004 zu mehreren sexuellen Übergriffen auf demente Mitbewohnerinnen. Der Verurteilte wurde daraufhin erneut in den Unterbringungsvollzug genommen. Auf seine Verfassungsbeschwerde erklärte das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 10. Februar 2004 das BayStrUBG wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz für mit dem Grundgesetz unvereinbar (BVerfGE 109, 190). Der Verurteilte befindet sich nunmehr in einem psychiatrischen Krankenhaus. Wegen der Vorfälle in dem Seniorenheim ist gegen ihn vor dem Landgericht Hof auch ein Sicherungsverfahren gem. §§ 413 ff. StPO wegen sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen anhängig.

Das Landgericht Passau hat mit seiner Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung an die Verurteilung vom 16. März 1999 wegen Vergewaltigung angeknüpft. Als neu hervorgetretene Tatsachen, die die erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten belegen, hat es gewertet, dass der Verurteilte während der Haftzeit seine Straftaten geleugnet und jegliche Sexualtherapie verweigert hat, und er aufgrund des während des Strafvollzuges fortgeschrittenen hirnorganischen Abbaus nicht in der Lage ist, Grenzen im Sexualbereich zu erkennen. Die Vorfälle in dem Seniorenheim spiegelten dies wider. Die zugleich ausgesprochene Überweisung in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sei aufgrund des – von den angehörten Sachverständigen bestätigten – Behandlungsbedarfs des Verurteilten gerechtfertigt.

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Landgerichts Passau auf die Revision des Verurteilten aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung gem. § 66 b StGB setze neue Tatsachen voraus, die nach der Anlassverurteilung und vor Ende des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe bekannt geworden seien. Die sexuellen Übergriffe des Verurteilten ereigneten sich demgegenüber nicht während des Strafvollzuges, sondern in einem Seniorenheim; sie hätten daher außer Betracht zu bleiben. Der Gesetzgeber habe zudem durch eine Übergangsregelung (Art. 1 a Satz 2 EGStGB) ausdrücklich klargestellt, dass während der landesrechtlichen Unterbringung hervorgetretene Umstände keine neuen Tatsachen im Sinne von § 66b StGB darstellen. Hinsichtlich der verbleibenden Umstände – Therapieverweigerung, Hirnsubstanzdefekt – sei nicht hinreichend festgestellt, ob und inwieweit diese bereits im Zeitpunkt der Anlassverurteilung erkennbar gewesen seien. So stelle insbesondere eine Therapieverweigerung dann keine neue Tatsache dar, wenn der Verurteilte seine Taten durchgehend bestritten habe, das Ursprungsgericht daher nicht habe davon ausgehen können, dass er sich einer Therapie unterziehen werde. Die Überweisung des Verurteilten in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus entfalle mit Aufhebung der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung; sie sei wegen des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage aber auch im Übrigen bedenklich. Wegen der Vorfälle in dem Seniorenheim werde dem anhängigen Sicherungsverfahren Fortgang zu geben sein.

Urteil vom 23. März 2006 - 1 StR 476/05

Landgericht Passau – Urteil vom 10. Juni 2005 – KLs 209 Js 8551/98

Karlsruhe, den 23. März 2006

§ 66b StGB Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

  (1) Werden nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit den §§ 252, 255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, und wenn die übrigen Voraussetzungen des § 66 erfüllt sind.

  (2) Werden Tatsachen der in Absatz 1 genannten Art nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255, erkennbar, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

  (3) Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1. die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und

2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Maßregel ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

Pressestelle des Bundesgerichtshof
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501

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