Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 83/2004

 

Kartellsenat zum fusionsbedingten Entstehen einer marktbeherrschenden Stellung im deutschen Pharmagroßhandel

 

Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hatte heute in einem Fusionskontrollverfahren über die Frage der Marktabgrenzung im deutschen Pharmagroßhandel und über die Bedeutung des durch den Zusammenschluß entstehenden höheren Marktanteils für die Beurteilung des Entstehens einer marktbeherrschenden Stellung zu entscheiden.

Die Sanacorp e.G., in der mehr als 6.500 Apotheker zusammengeschlossen sind, läßt ihr operatives Geschäft, den Pharmagroßhandel, durch eine Tochtergesellschaft, die mit 14 Niederlassungen ausgestattete Sanacorp AG ausüben. Neben dieser sind auf dem deutschen Markt - er hatte im Jahr 1999 ein Volumen von rund 32,3 Mrd. DM - überregional weitere Anbieter, nämlich die ANZAG (23 Niederlassungen), die Celesio (20 Niederlassungen) und die Phoenix (18 Niederlassungen), sowie – im wesentlichen nur in NRW - die Noweda tätig. Daneben werden die Apotheken von zwölf nur regional tätigen Pharmagroßhändlern beliefert. Bundesweit sind elektronische Bestellsysteme eingerichtet, über welche die mehr als 21.500 Apotheken ihre Lieferaufträge erteilen und sogleich die Rückmeldung erhalten, wann die Ware bei ihnen eintrifft. Dem Apotheker ist zugleich die Möglichkeit eröffnet, ohne besonderen Aufwand oder Kosten sofort einen anderen Großhändler zu beauftragen. Durch dieses Ordersystem hat sich der unerläßlich notwendige Zeitraum zwischen dem Eingang der Bestellung bei der jeweiligen Niederlassung des Großhändlers und dem möglichen Start der Auslieferungstour auf 30 Minuten verringert. Üblicherweise stehen die Apotheken mit mindestens zwei Großhändlern in Lieferbeziehungen, von denen der eine die Funktion des Erst- und der andere die des Zweitlieferanten wahrnimmt. Mit Rücksicht auf das ausgefeilte Bestell- und Liefersystem im pharmazeutischen Großhandel besteht bei den Apothekern die Erwartung, tagsüber mindestens zwei mal - je nach Lage der Apotheke auch öfter - mit den von ihnen bestellten Produkten beliefert zu werden, so daß Lieferhäufigkeit und Lieferzuverlässigkeit die von allen Pharmagroßhändlern gewährleistete Grundvoraussetzung für deren Beauftragung sind. Aus der Sicht der die Ware bestellenden Apotheker spielt - wenn diese für ihn selbstverständliche Grundbedingung von den verschiedenen Anbietern gleichermaßen erfüllt wird - bei der Auswahl des Großhändlers der Preis für die Belieferung die entscheidende Rolle. Er wird wegen der nicht veränderbaren Endpreise für die Kunden durch Rabatte und Zahlungskonditionen bestimmt, die die Pharmagroßhändler aus der ihnen von den Herstellern eingeräumten Marge - bei Zugrundelegen einheitlicher Abgabepreise - erwirtschaften müssen.

Die Sanacorp, die Noweda und die D Bank halten die Aktien der ANZAG. Gegenstand des Fusionskontrollverfahrens ist der Erwerb weiterer Aktien durch die Sanacorp-Gruppe von der D Bank, durch den die Sanacorp ihren Anteil auf knapp über 50% des Grundkapitals der ANZAG gesteigert hätte. Dieses von den Betroffenen angemeldete Vorhaben hat das Bundeskartellamt untersagt, weil in mindestens drei Gebieten in Deutschland das zusammengeschlossene Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung erhalte. Das OLG Düsseldorf als Beschwerdegericht hat die Untersagungsverfügung aufgehoben. Auf die Rechtsbeschwerde des Bundeskartellamts hat der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs den Beschluß des OLG Düsseldorf aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen.

Er ist beiden Begründungen der angefochtenen Entscheidung nicht gefolgt: Zwar hat er mit dem Beschwerdegericht die räumliche Abgrenzung der relevanten Teilmärkte, wie sie das Bundeskartellamt gezogen hatte, als nicht tragfähig angesehen, weil angesichts der festgestellten Lieferbeziehungen die historisch gewachsenen Niederlassungsgebiete die Wirklichkeit des Marktgeschehens nicht abbilden. Er hat aber auch den Lösungsweg des Beschwerdegerichts verworfen, welches regionale Teilmärkte mit einem Radius von jeweils 150 km um jede Niederlassung hat bilden wollen. Dies hätte – zumindest in den drei Problemgebieten - zu räumlichen Märkten geführt, die völlig konturenlos wären, mit den tatsächlichen Gegebenheiten, wie sie sich u.a. auch durch die Verkehrswege und die Bevölkerungsdichte ergeben, nicht in Einklang stehen und damit den Zweck der Abgrenzung im Rahmen der Fusionskontrolle verfehlen.

Auch die Hilfsbegründung des Beschwerdegerichts – auch bei Zugrundelegen der Marktabgrenzung des Bundeskartellamts erlange das zusammengeschlossene Unternehmen keine marktbeherrschende Stellung, weil die entstehenden hohen Marktanteile von zwischen 55% und 75% die Mitbewerber nicht an einer Verteidigung ihrer Stellung am Markt hinderten - hat der Kartellsenat verworfen. Sie ist schon von der Blickrichtung verfehlt, weil es bei der Prüfung im Rahmen des § 36 Abs. 1 GWB nicht um die Verteidigung der Position der Mitbewerber, sondern darum geht, ob das zusammengeschlossene Unternehmen mit Rücksicht auf seinen hohen, über längere Zeit bestehenden und gefestigten Marktanteil imstande ist, auch unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des konkreten Marktes vorstoßenden Wettbewerb selbst eines besonders finanzstarken anderen Pharmagroßhändlers abzuwehren.

Die Sache ist an die Vorinstanz zur Klärung der offenen tatsächlichen Fragen zurückverwiesen worden.

Urteil vom 13. Juli 2004 - KVR 2/03

Karlsruhe, den 13. Juli 2004

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