Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 58/2004

Haftungsprivilegierung für Überspannungsschäden

Der unter anderem für den Handel mit Energie zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte über folgenden Fall zu entscheiden:

Die Klägerin bezieht von der beklagten Stadtwerke AG Strom für ihren Geschäftsbetrieb. Am 1.7.2002 fiel die Stromversorgung bei der Klägerin aus. Den Ausfall überbrückte die Klägerin mit der eigenen Notstromversorgungsanlage. Nach Behebung der Störung wurde die Versorgung der Klägerin wieder aufgenommen. Dabei wurde versehentlich das 220-V-Netz der Klägerin mit dem 400-V-Netz der Beklagten verbunden, was nach der Behauptung der Klägerin zu erheblichen Überspannungsschäden an der technischen Einrichtung ihres Büros führte. Die Fehlschaltung beruht unstreitig auf grober Fahrlässigkeit eines Mitarbeiters der Beklagten. Die Klägerin verlangt Schadensersatz in Höhe von ca. 26.000 €. Der Haftpflichtversicherer der Beklagten hat 2.556,46 € (= 5.000,-- DM) bezahlt; insoweit haben die Parteien den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt. Eine weitergehende Schadensregulierung lehnen die Beklagte und ebenso ihr Haftpflichtversicherer unter Berufung auf § 6 AVBEltV ab. Die Bestimmung lautet auszugsweise wie folgt:

  1. Für Schäden, die ein Kunde durch Unterbrechung der Elektrizitätsversorgung oder durch Unregelmäßigkeiten in der Elektrizitätsbelieferung erleidet, haftet das ihn beliefernde Elektrizitätsversorgungsunternehmen aus Vertrag oder unerlaubter Handlung im Falle

    1. der Beschädigung einer Sache, es sei denn, daß der Schaden weder durch Vorsatz noch durch grobe Fahrlässigkeit des Unternehmens oder eines Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen verursacht worden ist,
    2. eines Vermögensschadens, es sei denn, daß dieser weder durch Vorsatz noch durch grobe Fahrlässigkeit des Inhabers des Unternehmens oder eines vertretungsberechtigten Organs oder Gesellschafters verursacht worden ist.

§ 831 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches ist nur bei vorsätzlichem Handeln von Verrichtungsgehilfen anzuwenden.

  1. Bei grobfahrlässig verursachten Sach- und Vermögensschäden ist die Haftung des Elektrizitätsversorgungsunternehmens gegenüber seinem Tarifkunden auf jeweils 2.500 Euro begrenzt. …

 

Das Berufungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der bei der Klägerin eingetretene Überspannungsschaden sei durch eine "Unregelmäßigkeit in der Elektrizitätsbelieferung" im Sinne des § 6 Abs. 1 AVBEltV verursacht worden. Dieser Auffassung hat sich der Bundesgerichtshof angeschlossen.

Sinn und Zweck der Haftungsprivilegierung nach § 6 AVBEltV ist es, die Haftung der Elektrizitätsversorgungsunternehmen für die typischen Risiken der netzgebundenen Stromversorgung im Interesse möglichst kostengünstiger Strompreise angemessen zu begrenzen. Angesichts dieses Normzwecks greift die Haftungsprivilegierung ohne Rücksicht auf die Ursache der Störung immer dann ein, wenn Stromkunden Sach- oder Vermögensschäden dadurch erleiden, daß sich eines der beiden in § 6 Abs. 1 AVBEltV genannten typischen Risiken der Stromversorgung – die Unterbrechung der Versorgung oder die Belieferung mit Strom einer nicht vertragsgemäßen Spannung oder Frequenz – verwirklicht. Eine Beschränkung der Haftungsprivilegierung auf Spannungs- oder Frequenzschwankungen in der laufenden Stromversorgung würde dem Normzweck nicht gerecht. Denn das unkalkulierbare und für das Versorgungsunternehmen nicht versicherbare Risiko, daß eine zu hohe Spannung des gelieferten Stroms gleichzeitig bei einer Vielzahl von Abnehmern zu in ihrer Gesamtheit unüberschaubaren Schäden führen kann, besteht nicht nur bei Spannungsabweichungen in der laufenden Strombelieferung, sondern in gleicher Weise in dem hier gegebenen Fall, daß nach einer Unterbrechung der Stromversorgung mit deren Wiederaufnahme von Anfang an Strom einer zu hohen Spannung in das Netz eingespeist wird.

Allerdings hat der Bundesgerichtshof für einen scheinbar vergleichbaren Fall – die versehentliche Verbindung eines stromführenden Kabels mit dem Null-Leiter bei der Wiederaufnahme einer zuvor unterbrochenen Stromversorgung – ein Eingreifen der damals geltenden, mit § 6 AVBEltV im wesentlichen übereinstimmenden Haftungsprivilegierung verneint. Schadensursache war in jenem Fall indessen – anders als hier – nicht eine Unregelmäßigkeit in der Elektrizitätsbelieferung in Gestalt einer zu hohen Spannung des gelieferten Stroms, sondern der Umstand, daß der versehentlich unter Strom gesetzte Null-Leiter mit der Wasserleitung des Stromkunden, eines Landwirts, verbunden war, was zur Folge hatte, daß eine Milchkuh an der Viehtränke einen Stromschlag erlitt und verendete. Dieser Schaden geht darauf zurück, daß der mit der richtigen Spannung gelieferte Strom einen irregulären Weg genommen und dadurch zu einem Schaden des Stromkunden geführt hat. Ein solcher Fall wird von der Haftungsbeschränkung nach § 6 AVBEltV nicht erfaßt. Hier geht es dem gegenüber um die Lieferung irregulären Stroms auf regulärem Weg, die den Haftungsprivilegierungstatbestand der Unregelmäßigkeit in der Elektrizitätsbelieferung erfüllt.

Für den hier eingetretenen Schaden haftet das Energieversorgungsunternehmen auch nicht deswegen unbegrenzt, weil der Kunde sich durch den Einsatz von Überspannungsschutzgeräten nur gegen Spannungsschwankungen, nicht aber gegen die Aufschaltung eines 400-Volt-Stromnetzes schützen kann. Darauf kann in Anbetracht des Normzwecks der Haftungsbeschränkung nach § 6 AVBEltV nicht abgestellt werden. § 6 AVBEltV hat nicht die technischen Schutzmöglichkeiten der Abnehmer, sondern das typische Betriebsrisiko der Stromversorger im Blick. Nicht die Möglichkeit der Stromkunden, dem Eintritt von Überspannungsschäden durch technische Vorkehrungen vorzubeugen, sondern die Möglichkeit, sich gegen Überspannungsschäden zu versichern, hat den Verordnungsgeber dazu bewogen, dem allgemeinen Interesse an einer möglichst kostengünstigen Energieversorgung durch eine Beschränkung der Haftung für typische Betriebsrisiken der Versorgungsunternehmen Vorrang einzuräumen.

Urteil vom 26. Mai 2004 – VIII ZR 311/03

Karlsruhe, den 26. Mai 2004

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