Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 115/2003

Urteil in einem umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren wegen

fehlerhafter Gerichtsbesetzung aufgehoben

Das Landgericht Oldenburg hat nach einer 45tägigen Hauptverhandlung vier Angeklagte wegen Betrugs im Zusammenhang mit der Vermittlung von Warentermingeschäften in den Jahren 1991 bis 1994 zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Auf die Revisionen der Angeklagten hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil aufgehoben und die Sache an das Landgericht Oldenburg zurückverwiesen, weil die Strafkammer unter Verstoß gegen § 76 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) in der Hauptverhandlung mit nur zwei Berufsrichtern besetzt war. Dies führt nach der Strafprozeßordnung zwingend zur Aufhebung des Urteils.

Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 GVG sind die großen Strafkammern mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt; in dieser Besetzung entschieden die Strafkammern als erkennende Gerichte des ersten Rechtszuges ursprünglich in sämtlichen Verfahren. Als nach der Wiedervereinigung infolge des zusätzlichen Personalbedarfs für den Aufbau der Justiz in den neuen Ländern ein spürbarer Mangel an Richtern eintrat, räumte das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 den Strafkammern (mit Ausnahme der Schwurgerichte) für einen befristeten Zeitraum die Möglichkeit ein, bei der Eröffnung des Hauptverfahrens zu beschließen, daß die Hauptverhandlung in einer Besetzung mit nur zwei Berufsrichtern durchgeführt wird; diese wiederholt verlängerte Regelung gilt bis zum 31. Dezember 2004. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollte die Zweierbesetzung für diesen Zeitraum zum Regelfall werden. Dabei war ihm bewußt, daß mit der Verkleinerung des Spruchkörpers Gefahren für die Qualität der richterlichen Entscheidung verbunden sein könnten; er glaubte aber, dies im Hinblick auf die durch die Wiedervereinigung ausgelöste besondere Lage für eine vorübergehende Zeit in Kauf nehmen zu können (BTDrucks. 12/1217 S. 47). Für das Schwurgericht sowie für solche Verfahren, bei denen nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters erforderlich erscheint, hielt der Gesetzgeber dagegen an der bewährten Dreierbesetzung fest (§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVG). Die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters ermöglicht es nämlich, die vielfältigen Aufgaben in der Hauptverhandlung im Interesse einer prozeßordnungsgemäßen Wahrheitsfindung sachgerechter zu verteilen.

In der Praxis haben die Strafkammern nach der Beobachtung des Senats von der Möglichkeit der Zweierbesetzung in weitergehendem Umfang Gebrauch gemacht, als es den Vorstellungen des Gesetzgebers entspricht. Wie der Senat bereits in einer früheren Entscheidung (BGHSt 44, 328) ausgeführt hat, steht der Strafkammer bei der Festlegung ihrer Besetzung kein Ermessen zu. Rechtsfehlerhaft wäre es beispielsweise, wenn die reduzierte Besetzung aus Gründen der Personaleinsparung angeordnet würde; die Justizverwaltung hat vielmehr sicherzustellen, daß umfangreiche und schwierige Verfahren mit drei Berufsrichtern durchgeführt werden können. Allerdings räumt das Gesetz der Strafkammer bei der Auslegung der Merkmale "Umfang" und "Schwierigkeit" der Sache einen weiten Beurteilungsspielraum ein, so daß der Verstoß gegen § 76 Abs. 2 GVG die Revision nur dann begründet, wenn die Strafkammer diesen Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschreitet und ihre Entscheidung deshalb objektiv willkürlich ist.

Dies war hier der Fall: Die 189 Seiten umfassende Anklageschrift warf den vier Angeklagten, die von sechs Verteidigern vertreten wurden, mehrere hundert Betrugstaten zum Nachteil zahlreicher Kapitalanleger vor. Zum Nachweis der Tatvorwürfe hatte die Staatsanwaltschaft 289 Zeugen benannt; die als Beweismittel dienenden Urkunden und Augenscheinsobjekte umfaßten mehr als hundert Ordner. Mit Geständnissen konnte nicht gerechnet werden, nachdem die Angeklagten im Ermittlungsverfahren von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatten. Es war deshalb eine langwierige Hauptverhandlung zu erwarten; zu deren Sicherung hielt der Vorsitzende sogar die Zuziehung eines Ergänzungsschöffen für notwendig. Bei dieser Sachlage ließ sich die Auffassung der Strafkammer, das Verfahren erfordere seinem Umfang nach nicht die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters, nicht mehr vertretbar begründen.

Beschluß vom 14. August 2003 - 3 StR 199/03

Karlsruhe, den 9. Oktober 2003

 

 

 

 

§ 76 GVG Besetzung der Strafkammern

(1) Die Strafkammern sind mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen (große Strafkammer) ... besetzt.
(...)

(2) Bei der Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt die große Strafkammer, daß sie in der Hauptverhandlung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt ist, wenn nicht die Strafkammer als Schwurgericht zuständig ist oder nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint. (...)

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