Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 11/2002

Bundesgerichtshof zum Verhältnis zweier wechselseitig im

In- und Ausland erhobener Klagen

Der unter anderem für das Recht der Handelsvertreter zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat über das Verhältnis zweier Klagen entschieden, die die beiden Partner eines Handelsvertretervertrages wechselseitig gegeneinander zunächst im Ausland und dann im Inland erhoben haben.

Die in Deutschland ansässige Klägerin war für die Beklagte, die ihren Sitz in Italien hat, als Handelsvertreterin tätig. Nach Meinungsverschiedenheiten kündigte die Beklagte der Klägerin fristlos. Als diese widersprach, erhob die Beklagte in Italien Klage, mit der sie unter anderem die Feststellung begehrt, daß für ihre Kündigung ein wichtiger Grund bestanden habe. Später verklagte die Klägerin die Beklagte in Deutschland auf Schadensersatz wegen der nach ihrer Meinung unberechtigten Kündigung. In diesem Rechtsstreit hat die Beklagte beantragt, das Verfahren im Hinblick auf den in Italien anhängigen Prozeß nach Art. 21 Abs.1 des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsabkommens (EuGVÜ) auszusetzen. Diese Vorschrift besagt, daß dann, wenn bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden, das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aussetzt, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Das Landgericht hat den Aussetzungsantrag der Beklagten abgelehnt und danach der Klage stattgegeben. Im Berufungsverfahren hat das Oberlandesgericht demgegenüber die Ansicht vertreten, das Verfahren sei auszusetzen gewesen. Deshalb hat es das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Landgericht zurückverwiesen. Wegen grundsätzlicher Bedeutung hat das Oberlandesgericht die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen.

Der Bundesgerichtshof hat in Übereinstimmung mit dem Oberlandesgericht entschieden, daß der Begriff desselben Anspruchs in Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ auch den hier vorliegenden Fall umfaßt. Die Auslegung dieses Begriffs hat sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg daran zu orientieren, daß soweit wie möglich Parallelprozesse vor Gerichten verschiedener Vertragsstaaten des Übereinkommens vermieden werden, in denen Entscheidungen ergehen können, die miteinander unvereinbar sind und die deshalb in dem jeweils anderen Staat nicht anerkannt werden können. Danach kommt es nicht auf die formale Identität der Klagen, sondern darauf an, ob der Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten derselbe ist. Das ist auch dann der Fall, wenn wie hier die eine Partei auf Feststellung klagt, daß für ihre Kündigung ein wichtiger Grund vorgelegen habe, und die andere Partei in einem weiteren Verfahren einen Schadensersatzanspruch einklagt, der voraussetzt, daß die Kündigung mangels eines wichtigen Grundes unberechtigt gewesen ist. Denn das Urteil im ersten Verfahren bindet in dieser für die Schadensersatzforderung vorgreiflichen Frage das darüber entscheidende Gericht.

Der Bundesgerichtshof hat weiter entschieden, daß der danach gebotenen Aussetzung des hiesigen Rechtsstreits entgegen der Ansicht der Klägerin nicht Art. 6 Abs.1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entgegensteht, wonach jedermann Anspruch darauf hat, daß seine Sache innerhalb einer angemessenen Frist gerichtlich entschieden wird. Das kann allenfalls in seltenen Ausnahmefällen überlanger Verfahrensdauer der zuerst anhängig gemachten Klage in Betracht kommen. Ein solcher Fall ist bei der von der Beklagten im Juli 1998 in Italien erhobenen Klage bislang nicht gegeben.

Obwohl das Landgericht danach die Aussetzung des Verfahrens zu Unrecht abgelehnt hat, hat der Bundesgerichtshof das Berufungsurteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Er hat entschieden, daß das Berufungsgericht einen in erster Instanz entgegen Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ fehlerhaft nicht ausgesetzten Rechtsstreit nicht an das erstinstanzliche Gericht zurückverweisen darf, sondern dem Aussetzungsgebot der genannten Vorschrift selbst durch die Aussetzung des Berufungsverfahrens Rechnung tragen muß. Damit wird ein überflüssiges Hin und Her vermieden. Der in erster Instanz unterlegenen Partei entstehen dadurch keine Nachteile, weil sie eine vorläufige Vollstreckung des erstinstanzlichen Urteils durch entsprechende Rechtsbehelfe abwenden kann.

Urteil vom 6. Februar 2002 – VIII ZR 106/01

Karlsruhe, den 6. Februar 2002

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