Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 21/2000

 

Bundesgerichtshof läßt "Sitztheorie" durch den Gerichtshof der

Europäischen Gemeinschaften überprüfen

Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in einem am 30. März 2000 verkündeten Beschluß Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die die Vereinbarkeit der sogenannten Sitztheorie mit dem im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) verankerten Recht auf Niederlassungsfreiheit betreffen.

In dem zugrunde liegenden Rechtsstreit hat eine in den Niederlanden gegründete "BV" Gewährleistungsansprüche aus einem Bauvertrag über die Errichtung eines Hauses in Düsseldorf geltend gemacht. Nach Vertragsschluß und vor Klageerhebung hatte die "BV" ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegt. Die Vorinstanzen haben die Klage unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als unzulässig abgewiesen, weil die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland infolge der Sitzverlegung nicht rechtsfähig und damit auch nicht parteifähig sei. Die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft richte sich nach demjenigen Recht, das am Ort ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes gilt (sog. Sitztheorie). Das gelte auch dann, wenn eine Gesellschaft in einem Staat wirksam gegründet worden sei und danach ihren Verwaltungssitz in die Bundesrepublik Deutschland verlege. Eine nicht im Handelsregister eingetragene "BV" mit Verwaltungssitz in der Bundesrepublik sei nach deutschem Recht nicht rechtsfähig.

Die in vielen Staaten vertretene Sitztheorie will im wesentlichen vermeiden, daß die in dem jeweiligen Staat zum Schutz der Gläubiger und der Gesellschafter erlassenen Vorschriften dadurch leer laufen, daß sich eine Gesellschaft in einem anderen Staat gründet und sodann ihren Verwaltungssitz in den betreffenden Staat verlegt. Wäre in diesem Fall das Recht des Gründungsstaates anwendbar, wäre zu befürchten, daß sich diejenige Rechtsordnung durchsetzt, die den schwächsten Schutz dritter Interessen vorsieht.

Der Bundesgerichtshof hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Frage vorgelegt, ob eine derartige Beurteilung der in Art. 43 und Art. 48 des EG-Vertrages garantierten Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften entgegensteht. Er hat darauf hingewiesen, daß die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs in seinen unter den Kürzeln "Daily Mail" und "Centros" bekannt gewordenen Entscheidungen diese Frage nicht deutlich entschieden habe. Der Bundesgerichtshof hat zugleich angefragt, ob es die Niederlassungsfreiheit gebietet, die in anderen Staaten vertretene sogenannte Gründungstheorie anzuwenden. Danach beurteilt sich die Rechtsfähigkeit auch dann nach der Rechtsordnung des Staates, in dem die Gesellschaft gegründet wurde, wenn sie ihren Sitz nachträglich in einen anderen Staat verlegt.

Beschluß vom 30. März 2000 – VII ZR 370/98

Karlsruhe, den 5. April 2000

 

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