Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 89/1999

Urteil im Politbüro-Prozeß rechtskräftig

Das Landgericht Berlin hatte am 25. August 1997 die Mitglieder des Politbüros der DDR Egon Krenz wegen Totschlags von vier Flüchtlingen sowie Günter Schabowski und Günther Kleiber wegen Totschlags von drei Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze in den Jahren 1984 bis 1989 verurteilt. Die Angeklagten hatten an Beschlüssen des Politbüros – Krenz zudem an Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrats – mitgewirkt, die das Grenzregime aufrechterhielten. Krenz wurde zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten, Schabowski und Kleiber wurden zu Freiheitsstrafen von je drei Jahren verurteilt. Der 5. (Leipziger) Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revisionen der Angeklagten und die auf höhere Strafen abzielenden Revisionen der Staatsanwaltschaft verworfen. Damit ist das Urteil des Landgerichts Berlin rechtskräftig.

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, daß die Angeklagten als mittelbare Täter für die Erschießung der Flüchtlinge strafrechtlich verantwortlich sind. Sie gehörten dem Politbüro an, dem höchsten Entscheidungsgremium der SED und damit dem höchsten Machtorgan der DDR. Ihm war der Nationale Verteidigungsrat – das zentrale staatliche Organ, dem die einheitliche Leitung der Verteidigungs- und Sicherheitsmaßnahmen der DDR oblag – untergeordnet. Das Politbüro definierte den "Klassenauftrag" an die Grenztruppen; hinter diesem Begriff verbarg sich auch der vielfach sogenannte "Schießbefehl". Dieser ging dahin, die Grenze der DDR nach innen gegen "Grenzverletzer" zu sichern und dabei die Schußwaffe auch unter Inkaufnahme der Tötung von Flüchtlingen einzusetzen.

Die Angeklagten waren mittelbare Täter ("Täter hinter den Mauerschützen"), weil sie Organisationsstrukturen und Rahmenbedingungen geschaffen und ausgenutzt haben, innerhalb derer ihre Tatbeiträge regelhafte Abläufe – die jährlich neu gefaßten Befehlsketten innerhalb der Grenztruppen bis hinunter zu den Grenzsoldaten – auslösten.

Die Angeklagten hatten auch – trotz der eingeschränkten Souveränität der DDR – die Tatherrschaft und zudem ein eigenes Tatinteresse. Das Politbüro hatte ein mit der UdSSR gleichgerichtetes ureigenes Interesse an der Aufrechterhaltung des Grenzregimes. Auch die Angeklagten wollten keine Destabilisierung der DDR und der SED-Herrschaft. Das hätte ihre herausgehobene Stellung gefährdet und wäre ihren politischen Vorstellungen zuwider gelaufen. Den – wie die Geschichte gezeigt hat – mit der Öffnung der Grenze zwangsläufig verbundenen Verfall der DDR und der SED-Herrschaft wollten sie in ihrem eigenen Interesse verhindern; deshalb nahmen sie die Tötung der Flüchtlinge in Kauf. Die Aufrechterhaltung und Ausgestaltung des Grenzregimes hatte die UdSSR weitgehend der DDR überlassen, und zwar auch deshalb, weil sie wußte, daß deren politische Führung gleichgerichtete Interessen verfolgte. Für die Umsetzung des in die Hände der DDR gelegten Grenzregimes waren daher entsprechende eigenständige und eigenverantwortliche Entscheidungen des Politbüros unerläßlich. Dies bezweckten und erreichten auch die Beschlüsse, in denen die Angeklagten selbständig die politische Generallinie festgelegt und bestimmt haben, daß und wie das bestehende System aufrechtzuerhalten war. Dafür hatten sie eine wesentliche, selbständige Entscheidungs- und Anordnungskompetenz, und sie haben davon Gebrauch gemacht.

Der Bundesgerichtshof hat an seiner bisherigen – vom Bundesverfassungsgericht bestätigten – Rechtsprechung festgehalten, daß die Taten wegen offenkundiger Menschenrechtsverletzung auch nicht gerechtfertigt waren.

Urteil vom 08. November 1999 - 5 StR 632/98

Karlsruhe, den 08. November 1999

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