Bundesgerichtshof

Mitteilung der Pressestelle


Nr. 155/2007

Mögliche Strafbarkeit wegen Nichtabführung von Sozialver-sicherungsbeiträgen trotz Vorlage einer aufgrund eines

bilateralen Sozialversicherungsabkommens

ausgestellten Bescheinigung

Mit Urteilen vom 4. Dezember und 20. Dezember 2006 hat das Landgericht Landshut drei Angeklagte unter anderem von Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) von insgesamt 358.327,12 € bzw. 537.343,71 € freigesprochen.

Nach den Urteilsfeststellungen waren die Angeklagten Geschäftsführer oder Bevollmächtigte von unselbständigen Zweigniederlassungen ungarischer Unternehmen in Deutschland. Diese Unternehmen warben in Ungarn Arbeitnehmer für Arbeitsleistungen in Betrieben ihrer Werkvertragspartner in Deutschland an und setzten sie dort ein. Eine Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer nach der Beendigung der Tätigkeit im Bundesgebiet erfolgte nicht. In Ungarn existierten "keine Produktionsstätten", sondern lediglich Räumlichkeiten, in denen nur interne Verwaltungstätigkeiten für die Unternehmen ausgeübt wurden. In Deutschland wurden keine Sozialversicherungsbeiträge für die Arbeitnehmer abgeführt. Die Angeklagten nahmen für diese den sozialversicherungsrechtlichen Ausnahmetatbestand der Entsendung nach dem Sozialversicherungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn vom 2. Mai 1998 in Anspruch, das bis zum Beitritt Ungarns zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 galt. Sämtliche von den Angeklagten in Deutschland eingesetzten Arbeitnehmer verfügten während ihrer Tätigkeit über gültige D/H101-Bescheinigungen, die Art. 4 der Durchführungsvereinbarung zu dem Sozialversicherungsabkommen vorsah und denen zufolge die Arbeitnehmer nach Art. 7 des Abkommens ausschließlich dem ungarischen Sozialversicherungsrecht unterfielen. Ob für die Arbeitnehmer in Ungarn Sozialversicherungsbeiträge entrichtet wurden, hat das Landgericht nicht festgestellt.

Die Wirtschaftsstrafkammer hat die Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen, weil sie sich daran gehindert gesehen hat, die Sozialversicherungspflicht nach deutschem Recht zu beurteilen. Sie hat sich insoweit an den Inhalt der D/H101-Bescheinigungen gebunden gesehen. Dies haben die Revisionen der Staatsanwaltschaft erfolgreich beanstandet.

Der Bundesgerichtshof hat sich erstmals mit der Frage der Bindungswirkung solcher aufgrund bilateraler Sozialversicherungsabkommen ausgestellter Bescheinigungen befasst, die die Sozialversicherungspflicht im Ausland bestätigen. Der 1. Strafsenat hat entschieden, dass diese Bescheinigungen – anders als die innerhalb der Europäischen Union verwendeten, nahezu inhaltsgleichen E101-Bescheinigungen – für die Strafgerichte nicht in gleicher Weise bindend sind (hierzu BGHSt 51, 124). Insoweit für maßgebend erachtet er die unterschiedliche Rechtsnatur von herkömmlichen internationalen völkerrechtlichen Verträgen im Vergleich zum einheitlichen Rechtsraum, wie er für die Europäischen Gemeinschaften kennzeichnend ist. Der 1. Strafsenat brauchte nicht zu entscheiden, ob Bescheinigungen aufgrund bilateraler Sozialversicherungsabkommen eine beschränkte Bindungswirkung zukommen kann; denn eine solche Bindungswirkung fände jedenfalls ihre Grenze dort, wo die Bescheinigungen wie in den zugrunde liegenden Fällen gemessen am Wortlaut des Abkommens (Art. 7) inhaltlich offensichtlich unzutreffend sind. Daher hat der 1. Strafsenat beide freisprechenden Urteile aufgehoben und die Sachen an das Landgericht Landshut zurückverwiesen.

Urteile vom 24. Oktober 2007 – 1 StR 160/07 und 1 StR 189/07

Landgericht Landshut – Entscheidung vom 4. Dezember 2006 – 3 KLs 52 Js 181/04

und

Landgericht Landshut – Entscheidung vom 20. Dezember 2006 – 3 KLs 52 Js 3295/04

Karlsruhe, den 24. Oktober 2007

Art. 7 des Sozialversicherungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn vom 2. Mai 1998: "Wird ein Arbeitnehmer, der in einem Vertragsstaat beschäftigt ist, im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses von seinem Arbeitgeber in den anderen Vertragsstaat entsandt, um dort eine Arbeit für diesen Arbeitgeber auszuführen, so gelten in Bezug auf diese Beschäftigung während der ersten 24 Kalendermonate allein die Rechtsvorschriften des ersten Vertragsstaat über die Versicherungspflicht so weiter, als wäre er noch in dessen Hoheitsgebiet beschäftigt."

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