Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 37/2000

"Babycaust"

Der unter anderem für den Schutz gegen Ehrverletzungen zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte über die Frage zu entscheiden, ob das Klinikum Nürnberg, eine Anstalt öffentlichen Rechts, von den beklagten Abtreibungsgegnern die Unterlassung folgender Äußerungen verlangen kann: "Kindermord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikum Nord" und "damals: Holocaust, heute: Babycaust".

Diese Äußerungen waren neben anderen auf einem Flugblatt enthalten, das die Beklagten vor dem Klinikgelände aus Protest gegen dort stattfindende Schwangerschaftsabbrüche verteilt hatten. Seit Anfang 1993 sind Praxisräume auf dem Klinikgelände an einen Frauenarzt vermietet, der nicht unwesentliche Teile seines Einkommens mit der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen erzielt.

Vor dem Oberlandesgericht hatte die Unterlassungsklage des Klinikums Erfolg. Zur Begründung hat das Oberlandesgericht ausgeführt, daß durch den Vergleich der Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust die Grenze des auch unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit Hinnehmbaren überschritten sei.

Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte Erfolg. Der VI. Zivilsenat des BGH vermochte sich der vom Berufungsgericht vorgenommenen Abwägung zwischen dem Schutz des Ansehens der Klägerin und dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit der Beklagten im Ergebnis nicht anzuschließen. Er ist dabei von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgegangen, wonach eine Vermutung zu Gunsten der freien Rede besteht, wenn es sich - wie bei der hier umstrittenen Meinungsäußerung - um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung handelt. Dabei spielt es bei Meinungsäußerungen - im Gegensatz zu Tatsachenbehauptungen - grundsätzlich keine Rolle, ob die Kritik berechtigt oder das Werturteil "richtig" ist. Durch die Gegenüberstellung des Holocaust mit einem von ihnen geschaffenen Wortgebilde "Babycaust" werde in erster Linie die Meinung der Flugblattverfasser zum Ausdruck gebracht, daß es sich bei der heutigen Abtreibungspraxis ebenfalls um eine Massenvernichtung menschlichen Lebens handele. Konkrete Anhaltspunkte dafür, daß die im Flugblatt geäußerte Meinung dazu führen könne, daß der Klägerin nicht mehr das erforderliche Mindestmaß gesellschaftlicher Akzeptanz entgegengebracht werde, um ihre Aufgaben im Rahmen der Krankenbetreuung zu erfüllen, seien weder den Feststellungen des Berufungsgerichts noch dem Vorbringen der Klägerin zu entnehmen. Zwar möge der Vergleich eines angeblichen "Babycaust" mit dem Holocaust unangebracht sein, zumal auch durch die derzeitige Rechtslage das ungeborene Leben – unter Berücksichtigung der Rechtsgüter der schwangeren Frau - bestmöglich geschützt werden soll. Im Rahmen eines Beitrags zur politischen Willensbildung in einer die Öffentlichkeit so sehr bewegenden, fundamentalen Frage, bei der es um den Schutz des Lebensrechts Ungeborener gehe, müsse die Meinungsäußerung jedoch auch in der vorliegenden Form nach Art. 5 Abs. 1 GG in einer freiheitlichen Demokratie hingenommen werden.

Urteil vom 30. Mai 2000 – VI ZR 276/99

Karlsruhe, den 30. Mai 2000

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