Bundesgerichtshof

Mitteilung der Pressestelle


Nr. 143/2006

Keine Strafbarkeit wegen Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen bei Vorlage einer durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft ausgestellten "E 101-Bescheinigung"

Das Landgericht München I hat mit Urteil vom 14. Juli 2005 den Angeklagten F. wegen Nichtabführens von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a StGB) in 11 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten H. hat es wegen Beihilfe zu diesen Taten unter Einbeziehung mehrerer Einzelstrafen aus Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und daneben zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt. Die Vollstreckung beider Gesamtfreiheitsstrafen hat das Landgericht zur Bewährung ausgesetzt.

Nach den Feststellungen des Landgerichtes betrieb der Angeklagte F. in Deutschland ein Bauunternehmen, das portugiesische Arbeiter beschäftigte. Um die Arbeiter der deutschen Sozialversicherungspflicht zu entziehen, wurden sie mittels pro forma geschlossener Arbeitsverträge bei portugiesischen Baugesellschaften angestellt. Die portugiesischen Firmen traten zum Schein auch in die Bauaufträge des deutschen Unternehmens ein. Die Scheinverträge wurden von dem Angeklagten H., einem ehemaligen Rechtsanwalt, erstellt. Tatsächlich hatten die portugiesischen Gesellschaften weder Kontakt zu "ihren" Arbeitnehmern noch zu den Bauherren. Arbeitsverhältnisse und Geschäftsbeziehungen bestanden allein mit dem vom Angeklagten F. geführten Unternehmen, das die Arbeiter auf Baustellen in Deutschland einsetzte und ihnen – wenn auch über die Konten der portugiesischen Gesellschaften - ihren Lohn auszahlte.

Durch die angeblichen Arbeitsverhältnisse in Portugal sollte eine nur vorübergehende Entsendung der Arbeiter nach Deutschland vorgetäuscht werden. Die deutschen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften und die europäische Verordnung Nr. 1408/71 sehen für den Fall einer derartigen Entsendung vor, dass der Arbeitnehmer nur in dem Staat zu versichern ist, von dem aus er entsandt wird. Zur Durchführung regelt die europäische Verordnung Nr. 574/72, dass der Sozialversicherungsträger des Herkunftsstaates die Entsendung bestätigt und bescheinigt, dass der Beschäftigte den sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen des Herkunftsstaates unterliegt (sog. "E 101-Bescheinigung"). Auf Veranlassung der Angeklagten stellten die portugiesischen Baugesellschaften bei der portugiesischen Sozialbehörde einen Antrag auf Erteilung von E 101-Bescheinigungen, die auch ausgestellt wurden. Sozialversicherungsbeiträge wurden deshalb in Deutschland nicht abgeführt; nach der Berechnung des Landgerichtes entstand hierdurch ein Beitragsschaden in Höhe von insgesamt 112.132,40 €. Ob für die Arbeiter Beiträge in Portugal entrichtet wurden, hat das Landgericht nicht festgestellt.

Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die portugiesischen Arbeiter in Deutschland sozialversicherungspflichtig waren. Den E 101-Bescheinigungen hat es nur formale Bedeutung beigemessen. Sie hindern nach Auffassung des Landgerichtes die Entstehung von Beitragsansprüchen der deutschen Sozialversicherungsträger und damit eine Strafbarkeit wegen Beitragsvorenthaltung nicht. Hiergegen wenden sich die Revisionen beider Angeklagter, die geltend machen, dass mit den Bescheinigungen die Sozialversicherungspflicht in Deutschland entfalle.

Der Bundesgerichtshof hat beide Angeklagte unter Aufhebung des landgerichtlichen Urteiles freigesprochen. Nach den Feststellungen des Landgerichtes bestehe zwar kein Zweifel daran, dass die Voraussetzungen einer Entsendung nach § 5 Abs. 1 SGB IV und Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht vorliegen. Dem Landgericht war angesichts der von dem portugiesischen Sozialversicherungsträger ausgestellten E 101-Bescheinigung gleichwohl gehindert, seiner Beurteilung deutsches Sozialversicherungsrecht zugrunde zu legen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes kommt den von den Sozialbehörden des Entsendestaates ausgestellten Bescheinigungen bindende Wirkung für die Sozialversicherungsträger und Gerichte des Gastlandes zu. Dies folge - so der Europäische Gerichtshof - aus dem Zweck der Verordnungen Nr. 1408/71 und 574/72, die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit zu fördern und jeden Arbeitnehmer nur an ein einziges System der sozialen Sicherheit anzuschließen. Diese eindeutige Rechtszuordnung wäre gefährdet, wenn die Behörden des Gastlandes sich nicht an die Bescheinigung gebunden sähen und den Betroffenen (zusätzlich) ihrem eigenen Sozialversicherungssystem unterstellen würden. In Konfliktfällen sei der Versicherungsträger des Aufnahmestaates daher gehalten, gegenüber dem Versicherungsträger des Entsendestaates auf eine Rücknahme der Bescheinigung hinzuwirken. Gelinge auf diesem Wege keine Verständigung, könne der Träger des Aufnahmestaates im Entsendestaat klagen oder ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 227 EG-Vertrag einleiten.

Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, dass hiernach auch die an einem innerstaatlichen Strafverfahren beteiligten Behörden und Gerichte an eine aus einem Mitgliedsstaat stammende E 101-Bescheinigung gebunden sind. Eine Strafbarkeit wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a StGB scheidet bereits deshalb aus, weil die Bescheinigung die Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes zur Folge hat, demzufolge auch keine sozialrechtliche Beitragspflicht in Deutschland besteht, deren Verletzung strafrechtliche Bedeutung haben könnte. Die Bindungswirkung einer E 101-Bescheinigung entfällt auch nicht in Fällen, in denen die Bescheinigung durch Manipulation oder Täuschung erschlichen wurde. Eine entsprechend der Bestimmung des § 330d Nr. 5 StGB vorzunehmende Gleichstellung solchen Verhaltens mit einem genehmigungslosen Handeln lässt, wie der Bundesgerichtshof ausführt, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht zu. Dies gilt in gleicher Weise für eine strafrechtliche Beurteilung unter dem Gesichtspunkt eines etwaigen Betruges.

Der Bundesgerichtshof musste nicht entscheiden, wie sich die grundsätzlich mögliche Rücknahme einer E 101-Bescheinigung durch den ausländischen Sozialversicherungsträger in strafrechtlicher Hinsicht auswirkt. Er hatte auch nicht darüber zu befinden, ob nach derzeitiger Rechtslage einer missbräuchlichen Erlangung und Verwendung von Entsendebescheinigungen mit entsprechenden hohen finanziellen Einbußen deutscher Sozialversicherungsträger überhaupt hinreichend begegnet werden kann. Hier könnte eine Verbesserung der europäischen Rechtslage angezeigt sein.

Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06

LG München I – Entscheidung vom 14. Juli 2005 - 5 KLs 303 Js 42943/02 –

Karlsruhe, den 24. Oktober 2006

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