Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 123/2003

 

Keine Haftung des Landes für Verletzungen eines

Untersuchungshäftlings durch Strafgefangenen

Der für das Amts- und Staatshaftungsrecht zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte über folgenden Fall zu entscheiden: Der Kläger war als Untersuchungsgefangener in der Untersuchungshaftabteilung der Justizvollzugsanstalt Waldheim untergebracht. Zur gleichen Zeit verbüßte der (ehemalige) Beklagte zu 1 in der dortigen Strafhaftabteilung eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Der Zellentrakt, in dem der Beklagte zu 1 untergebracht war, befand sich im dritten Obergeschoß über der im zweiten Obergeschoß befindlichen Untersuchungshaftabteilung. Die beiden Stockwerke waren durch ein horizontal verlaufendes Maschendrahtgitter getrennt, der Treppenaufgang durch senkrechte Metallstäbe zu beiden Seiten und jeweils eine Stahlgittertür am Auf- und Abgang gesperrt. Am 20. September 1994 verschaffte sich der Beklagte zu 1 gewaltsam Zugang zur Untersuchungshaftabteilung, indem er einen der metallenen Gitterstäbe an der Treppe herausbrach. Er drang in die Zelle des Klägers ein und versuchte, die Herausgabe von dessen Armbanduhr zu erzwingen. Als der Kläger sich weigerte, stach der Beklagte zu 1 mit einem mitgeführten angespitzten Schraubenzieher, dessen Stahlteil - ohne Griff - eine Länge von etwa 12 cm hatte, mehrfach auf ihn ein und fügte ihm Verletzungen im Gesicht, am Kopf und im Nacken zu. Dabei durchstach der Schraubenzieher den rechten Nasenflügel des Klägers, drang in die Mundhöhle ein und brach den rechten oberen Schneidezahn ab. Wegen dieser Tat wurde der Beklagte zu 1 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem schweren Raub zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren rechtskräftig verurteilt. Der Kläger wurde von den Vorwürfen, derentwegen er in Untersuchungshaft genommen worden war, rechtskräftig freigesprochen.

Der Kläger wirft dem Freistaat Sachsen (Beklagten zu 2) als Träger der Justizvollzugsanstalt vor, die dortigen Bediensteten hätten die zu seinem Schutz bestehenden Amtspflichten verletzt, Untersuchungs- und Strafgefangene voneinander zu trennen und den Beklagten zu 1 hinreichend zu überwachen. Deswegen sei der Freistaat Sachsen neben dem Beklagten zu 1 für den Überfall und die Verletzungen mitverantwortlich.

Das Berufungsgericht hat den Freistaat Sachsen im wesentlichen antragsgemäß zu Schadensersatz einschließlich Schmerzensgeld verurteilt (OLG Dresden VersR 2003, 1041). Es hat den Amtsträgern des Beklagten zu 2 eine Verletzung des Gebotes angelastet, den Untersuchungsgefangenen nicht mit anderen Gefangenen in demselben Raum unterzubringen und ihn auch sonst von Strafgefangenen, soweit möglich, getrennt zu halten. Die Justizvollzugsbediensteten hätten es nicht verhindert, daß der Beklagte zu 1 in die Untersuchungshaftabteilung habe eindringen und den Kläger in dessen Haftraum aufsuchen können. Die fahrlässige Amtspflichtverletzung hat das Berufungsgericht darin erblickt, daß die senkrechten Metallstäbe im Treppenbereich zwischen Straf- und Untersuchungshaftabteilung nicht durch einfache bauliche Maßnahmen wie zusätzliche Querverstrebungen gegen die Möglichkeit des Herausbrechens gesichert worden seien.

Der III. Zivilsenat hat den rechtlichen Ausgangspunkt des Berufungsgerichts geteilt, daß die Vollzugsbediensteten Amtspflichten zum Schutze des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Untersuchungs- und Strafgefangenen haben. Diese Amtspflicht umfaßt auch die Verhütung von drohenden Schädigungen des Häftlings durch Mitgefangene. Nicht zu folgen vermochte der III. Zivilsenat dem Berufungsgericht jedoch insoweit, als es dem Trennungsgebot des § 119 Abs. 1 StPO i.V.m. Nr. 22 UVollzO den unmittelbaren Schutzzweck beigemessen hat, die körperliche Unversehrtheit des Untersuchungsgefangenen gegen Bedrohungen durch Strafgefangene zu sichern. Es ist anerkannt, daß das Trennungsgebot ein aus der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK, die Verfassungsrang hat, hergeleitetes Privileg des Untersuchungsgefangenen ist. Die Trennung von Strafgefangenen ist dementsprechend eine Grundforderung, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, den Charakter der Untersuchungshaft als einer prozessualen Sicherungsmaßnahme gegen den als unschuldig Geltenden von der Vollstreckung der Strafe an einem Schuldigen eindeutig abzugrenzen. Eine darüber hinausgehende Zielrichtung, die Gruppe der Untersuchungshäftlinge speziell vor Übergriffen aus der Gruppe der Strafgefangenen zu schützen, läßt sich dem Trennungsgebot hingegen nicht entnehmen. Die allgemeine Amtspflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit besteht unterschiedslos zugunsten der Untersuchungs- und der Strafgefangenen. Die Persönlichkeit des Beklagten zu 1 und dessen Verhalten während der bisherigen Haftverbüßung hatten den Amtsträgern des Beklagten zu 2 keinen Anlaß für besondere Sicherungsmaßnahmen geboten. Vor diesem Hintergrund ließ sich eine Haftung des Beklagten zu 2 auch nicht aus dem Umstand herleiten, daß die Anstaltsbediensteten die - das Trennungsgebot als solches nicht in Frage stellende - Überwindbarkeit der Sicherungsmaßnahmen zwischen den beiden Abteilungen hätten erkennen können. Auch der Umstand, daß sich der Beklagte zu 1 im Besitz des Tatwerkzeugs, nämlich des angespitzten Schraubenziehers, befunden hatte, ließ keinen Rückschluß auf ein Überwachungsverschulden der Amtsträger der Justizvollzugsanstalt zu. Es wird sich selbst bei sorgfältiger Kontrolle nicht ausschließen lassen, daß derartige Gegenstände in den Besitz eines Strafgefangenen gelangen können.

Der Bundesgerichtshof hat daher auf die in Anwendung neuen Rechtsmittelrechts durch das Berufungsgericht zugelassene Revision des Freistaats Sachsen die Klage, soweit sie gegen diesen gerichtet war, abgewiesen.

Urteil vom 23. Oktober 2003 - III ZR 354/02

Karlsruhe, den 23. Oktober 2003

Pressestelle des Bundesgerichtshofs

76125 Karlsruhe

Telefon (0721) 159-5013

Telefax (0721) 159-5501