Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 74/2002

Finanziell überforderte Bürgen können im allgemeinen nicht die Vollstreckung aus einem zu ihren Lasten ergangenen

rechtskräftigen Urteil abwehren

Der Bundesgerichtshof hatte sich erstmals mit der Klage einer finanziell überforderten Bürgin zu befassen, die auf der Grundlage der früheren Rechtsprechung zur Zahlung verurteilt worden war und die Folgen des gegen sie ergangenen Urteils unter Berufung auf die seither ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu beseitigen sucht.

Die Klägerin hat im Jahre 1988 für Geschäftsverbindlichkeiten ihres damaligen Ehemannes die Bürgschaft gegenüber dem beklagten Kreditinstitut bis zum Betrage von 200.000 DM übernommen. Dieses erwirkte im Oktober 1992 gegen sie ein rechtskräftig gewordenes Versäumnisurteil in Höhe von 70.882,06 DM zuzüglich Zinsen. Das Urteil stand damals in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Bürgschaftsrecht. Nach der heutigen Auffassung des IX. und des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs war der Bürgschaftsvertrag dagegen von Anfang an nichtig. Die Klägerin begehrt, die Vollstreckung aus dem im Jahre 1992 ergangenen Urteil für unzulässig zu erklären. Sie stützt sich auf einen im Oktober 1993 ergangenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 89, 214), der ein Urteil des Bundesgerichtshofs, das der Bürgschaftsklage gegen die finanziell überforderte Tochter des Hauptschuldners stattgegeben hatte, als grundgesetzwidrig aufgehoben hat. Während die Klägerin mit ihrem Begehren in erster Instanz Erfolg hatte, hat das Oberlandesgericht Köln - sein Urteil ist in ZIP 1999, 1707 veröffentlicht - die Klage abgewiesen.

Die dagegen gerichtete Revision hat der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nunmehr zurückgewiesen. Der Senat hat darauf verwiesen, daß das Recht nur in sehr engen Grenzen die Möglichkeit gewährt, gegen ein rechtskräftiges Urteil vorzugehen. Eine Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO kann grundsätzlich nicht darauf gestützt werden, daß das Gericht falsch entschieden hat. Allerdings ist die Vollstreckung aus einer unanfechtbaren Entscheidung, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm beruht, unzulässig. Dies kann gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG mit der Klage in entsprechender Anwendung des § 767 ZPO geltend gemacht werden. Auf diese Vorschrift berief sich die Klägerin im Streitfall jedoch zu Unrecht. Zwar hält der Bundesgerichtshof die gesetzliche Regelung über ihren Wortlaut hinaus auch dann für anwendbar, wenn das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift lediglich festgestellt oder eine bestimmte Gesetzesauslegung als verfassungswidrig bezeichnet hat. Erforderlich ist jedoch immer eine auf die Gültigkeit einer bestimmten Rechtsnorm bezogene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die Vorschrift des § 79 Abs. 2 BVerfGG bezieht sich dagegen nicht auf solche Entscheidungen, die Urteile und Beschlüssse lediglich wegen verfassungswidriger Anwendung einer uneingeschränkt gültigen Rechtsnorm im Einzelfall aufheben.

Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 traf keine Aussagen zur Auslegung der zivilrechtlichen Generalklauseln, insbesondere der §§ 138, 242 BGB, sondern beanstandete, daß sich der Bundesgerichtshof mit den Einwendungen der Bürgin im konkreten Fall nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maße auseinandergesetzt habe. Die Entscheidung enthielt keine Vorgaben dazu, unter welchen Voraussetzungen Bürgschaften finanziell überforderter Personen als sittenwidrig anzusehen sind. Die dafür maßgeblichen Kriterien herauszuarbeiten, blieb allein den Zivilgerichten überlassen. Diesem Beschluß des Verfassungsgerichts fehlt daher eine normeinschränkende Aussage, wie sie Voraussetzung für die Anwendung des § 79 Abs. 2 BverfGG wäre.

Die Klägerin könnte allerdings gemäß § 826 BGB Unterlassung der Vollstreckung und Herausgabe des Titels verlangen, wenn dessen Ausnutzung als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung anzusehen wäre. Auch dies hat der IX. Zivilsenat indessen im Streitfall verneint. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann auf diesem Wege gegen ein rechtskräftiges Urteil nur in besonders schwer wiegenden Ausnahmefällen vorgegangen werden, in denen es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechterdings unvereinbar wäre, dem Gläubiger die aus dem Urteil erlangte Rechtsstellung zu belassen. Einen solchen Ausnahmefall hat der Bundesgerichtshof hier verneint, weil die Klägerin in dem ursprünglichen Prozeß durch einen Rechtsanwalt vertreten war, alle zu ihren Gunsten sprechenden Argumente hatte vorbringen können und sich nach Zurückweisung des dort gestellten Prozeßkostenhilfeantrags entschlossen hatte, der Klage nicht mehr entgegen zu treten. Das Kreditinstitut hat zudem von der Klägerin bisher keinerlei Zahlungen erhalten.

Urteil vom 11. Juli 2002 - IX ZR 326/99

Karlsruhe, den 11. Juli 2002

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