Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

 

 

Nr. 45/2000

 

Abgabe von Hörgeräten im verkürzten Versorgungsweg

 

Der u.a. für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hatte über eine Klage der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker gegen ein Fachunternehmen zu entscheiden, das an Patienten Hörgeräte im sog. verkürzten Versorgungsweg abgibt.

Bei einer herkömmlichen Hörgeräteversorgung verordnet der HNO-Arzt ein Hörgerät. Ein Hörgeräteakustiker nimmt eine erweiterte audiometrische Messung vor, fertigt einen Ohrabdruck und wählt ein geeignetes Hörgerät aus. Danach stellt er ein Ohrpaßstück her, in das später das Hörgerät eingefügt wird. Anschließend paßt der Hörgeräteakustiker das Hörgerät dem Patienten an und weist ihn in die Benutzung des Geräts ein. Darauf begibt sich der Patient erneut zum HNO-Arzt. Dieser überprüft die Hörverbesserung und bestätigt für die Krankenversicherung die Ordnungsmäßigkeit der Versorgung.

Bei dem sog. verkürzten Versorgungsweg der Beklagten führt der HNO-Arzt die erweiterte audiometrische Messung selbst durch und nimmt auch selbst den Ohrabdruck ab. Die Meßergebnisse und den Ohrabdruck übersendet er der Beklagten. Auf dieser Grundlage wählt diese ein Hörgerät aus, programmiert es digital und fertigt das Ohrpaßstück an. In der Arztpraxis wird das Hörgerät individuell angepaßt und ggf. mit Hilfe eines von der Beklagten gestellten Computers - in telefonischer Sprechverbindung mit einem Hörgeräteakustiker der Beklagten - umprogrammiert.

Nach einem Vertrag der Beklagten mit einem Landesverband von Betriebskrankenkassen zahlt die Kasse den HNO-Ärzten - zur Verwaltungsvereinfachung über die Beklagte - für die ärztlichen Leistungen bei der Abnahme des Ohrabdrucks und der Anpassung des Hörgeräts ein - unstreitig nicht unangemessenes - Honorar von 250,-- DM für jedes zu versorgende Ohr. Die Beklagte warb bei HNO-Ärzten mit einem Rundschreiben für die Zusammenarbeit mit ihr, wobei sie u.a. darauf hinwies, daß für die zusätzlichen ärztlichen Leistungen ein Honorar außerhalb des gedeckelten Budgets der gesetzlichen Krankenversicherung anfalle. Die Bundesinnung der Hörgeräteakustiker hat auf Unterlassung dieser Werbung geklagt, weil sie wettbewerbswidrig zu einem Verhalten auffordere, das u.a. gegen Bestimmungen der Handwerksordnung und des ärztlichen Berufsrechts sowie gegen sozialrechtliche Vorschriften verstoße. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ihr im wesentlichen stattgegeben. Die Revision der Beklagten führte zur Wiederherstellung des die Klage abweisenden landgerichtlichen Urteils.

Der Bundesgerichtshof hat die Ansicht vertreten, daß die Leistungen, die ein HNO-Arzt bei der Zusammenarbeit mit einem Hörgeräteakustiker im verkürzten Versorgungsweg erbringt, nach der Handwerksordnung nicht ausschließlich den Hörgeräteakustikern vorbehalten sind. Es sei auch berufsrechtlich unbedenklich, wenn dafür ein angemessenes Honorar bezahlt werde. Der Umstand, daß der Arzt bei einer Entscheidung des Patienten für den verkürzten Versorgungsweg eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit erhalte und deswegen dazu neigen könnte, dem Patienten eine Versorgung auf diesem Weg nahezulegen, rechtfertige es nicht, ihm die Zusammenarbeit mit der Beklagten allgemein zu verbieten, und dies selbst in Fällen, in denen es dafür überwiegende Sachgründe gebe (z.B. ausdrücklicher Wunsch des Patienten wegen geringerer Zuzahlungen oder des Wegfalls von Wegen, Qualität oder Wirtschaftlichkeit der Versorgung). Der Umstand, daß die Wahl einer bestimmten Therapiemöglichkeit oder eines Versorgungswegs dem Arzt ermögliche, zusätzliche Leistungen gegen Entgelt zu erbringen, könne kein Grund sein, diese zu verbieten. Der Arzt sei zudem nicht an die Beklagte gebunden. Er könne auch bei einer Entscheidung für den verkürzten Versorgungsweg einen anderen Anbieter als die Beklagte benennen. Es stehe weiter durchaus in Einklang mit dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn die Möglichkeiten, Patienten ihrer besonderen Situation angepaßt zu versorgen, durch die Einführung des verkürzten Versorgungswegs erweitert würden. Auch die zuständigen Fachbehörden, denen das Versorgungssystem der Beklagten seit Jahren bekannt sei, hätten im übrigen bisher keinen Anlaß zum Einschreiten gesehen.

Urteil vom 29. Juni 2000 - I ZR 59/98

Karlsruhe, den 29. Juni 2000

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